Offener Brief
Offener Brief
Vermutlich steche ich jetzt in ein Wespennest, das ganze Thema hängt uns allen schon lange zum Halse heraus. Trotzdem möchte ich nach langer Pause an dieser Stelle etwas zur aktuellen Lage schreiben, wie ich sie aus der Perspektive unserer Praxis wahrnehme. Weil es leider so sehr strittig ist, was nun „wahr und richtig“ ist in dieser Pandemie möchte ich beschreiben, wie ich es persönlich erlebt habe und erlebe.
Seit 11/2020 haben wir Coronaerkrankte in unserer Praxis, im ersten Quartal 4 Todesfälle unter Lockdown-Bedingungen, ein fünfter hat nach Lungenembolie geradeso überlebt (nicht viel älter als ich).
Seit 4/2021 impfen wir, bisher über 2600x, dazu haben wir unendlich viele Gespräche geführt, weil ja besonders am Anfang wirklich nur begrenzte Erfahrungen vorlagen, sowohl zur Erkrankung als auch zur Impfung. Angesichts der Sterbezahlen z.B. in Italien fand und finde ich die Entscheidung, eine bedingte Zulassung für die Impfstoffe zu erteilen mutig aber richtig. Es war die Chance, erstmal zahlreiche Todesfälle und Krankenhausaufenthalte zu vermeiden und im weiteren mehr Kontakte zu ermöglichen. Wir haben bis 10/21 77 Coronafälle gehabt, davon nur 7 Geimpfte, 4 davon sehr kranke, in Pflegeeinrichtungen lebende Menschen, davon ein Todesfall. Ab April kein Todesfall mehr. Die Geimpften sind bis dato ganz gut durchgekommen.
Seit November steigen die Fälle rasant an, im November 21 neue Fälle, im Dezember bis gestern 45 neue Fälle. Alles noch Deltavariante. Für uns bedeutet das praktisch: ein Mehrfaches davon an PCR-Abstrichen wegen Infektsymptomatik, Beratungsbedarf, Administration, das Telefon läuft heiß und es wird sich beschwert, daß immer besetzt ist. Nebenbei brauchen all die chronisch z.T. Schwerkranken, Krebspatienten, psychisch stark Belasteten, Menschen mit unklarer Symptomatik etc angemessene Aufmerksamkeit und Sorgfalt. Und „nebenbei“ boostern wir auch noch, ca 700x seit Anfang November. Und der Winter fängt erst an und Omikron ist hier noch nicht angekommen. Ich schreibe das, um deutlich zu machen, daß Überlastung nicht erst in der Intensivstation beginnt. Und es kommt jetzt wieder zu schweren Verläufen bei Ungeimpften, ich dachte, das hätten wir hinter uns.
Und ja, wir haben leider seit November mit zunehmendem Abstand zur zweiten Impfung auch Geimpfte unter den Coronakranken: 36% (Anteil der Geimpften in Brandenburg an der Gesamtbevölkerung 64%). Deshalb haben wir so viel wie irgend möglich geboostert, um möglichst vielen Menschen ein möglichst wenig gefährdetes Weihnachtsfest zu ermöglichen.
Aber was mir mindestens ebenso viele Sorgen macht wie Omikron ist die Zuspitzung der gesellschaftlichen Konflikte zum Umgang mit der Pandemie. So erfahren wir einerseits viel Zuspruch und Dankbarkeit, daß wir Impfungen ermöglichen, gleichzeitig werde ich auch sehr kritisch angesprochen, ob ich denn nichts von den Tausenden Impftoten wüßte und daß ja auch in Lunow schon so viele an der Impfung verstorben wären. Und daß ja Impfen sowieso nichts nützt, weil ja auch Geimpfte krank werden und das Virus weitergeben können. Und wie empörend die Einschränkungen für Ungeimpfte seien. usw
Natürlich sind viele politische Entscheidungen zur Pandemie kritisch zu sehen, aber was ist denn eine sinnvolle Strategie ?? M.E. sind nur Impfen und Kontaktvermeidung wirksam, um die Pandemie auszubremsen. Letzteres ist aber auf die Dauer mit viel mehr kritischen Nebenwirkungen verbunden als das Impfen: Vereinsamung, Depression, Entfremdung, Unzufriedenheit, Aggression, Erschöpfung, von allen wirtschaftlichen Folgen für viele ganz zu schweigen und dem hohen Anteil psychischer Störungen unter jungen Menschen.
Bei den Impfungen haben wir in diesem Jahr enorm viel Erfahrungen sammeln können, auch bittere im Einzelfall bei Astra Zeneca. Aber es gibt eine Lernkurve, die Empfehlungen werden angepaßt, um das Risiko weiter zu senken. Schwere Nebenwirkungen sind äußerst selten, noch am häufigsten: auf ca 1: 10.000 Impfungen mit Biontech bei männlichen Jugendlichen eine Myokarditis, die wiederum zu 95% ohne Therapie abklingt. Im übrigen gibt es keine seriösen Belege für Impffolgen, die erst Jahre nach der Impfung auftreten. Impfreaktionen treten als Sofortreaktion des Immunsystems innerhalb von Wochen auf. Insofern hat man nach ca 780 Millionen Impfungen mit Biontech in diesem Jahr innerhalb der EU schon ziemlich breite Anwendungserfahrungen. Ja, ein Teil der Geimpften hat eine allgemeine Impfreaktion mit Gliederschmerzen, Schüttelfrost, Schwächegefühl, manchmal Fieber für 1-2 Tage, selten bis eine Woche. Das ist nicht angenehm, aber viele Covid-Infekte beeinträchtigen stärker und länger, von LongCovid ganz zu schweigen.
Das Argument, dieser „genetische“ mRNA-Impfstoff könnte in unsere Erbmasse eingebaut werden, ist auch nicht überzeugend, denn 1. kann RNA nicht in unsere DNA eingebaut werden und 2. nehmen wir das ganze Leben lang bei Virusinfektionen immer wieder Viruserbmasse in uns auf. Wenn wir das nicht aushalten würden, gäbe es die Menschheit gar nicht (mehr). Bei der Impfung nehmen wir einen winzig kleinen Anteil der Virus-RNA, nur den Bauplan für das Spikeprotein, auf. Bei einer Covid-Infektion werden wir von Millionen vollständiger vermehrungsfähiger Viren überschwemmt. Da ist das Gefahrenpotential viel höher.
Manchmal höre ich auch, alles wäre nur Marketing der unersättlichen Pharmaindustrie. Natürlich darf man der nicht unkritisch begegnen, aber gerade Impfstoffproduktion ist ein für die Hersteller riskantes, meist weniger gewinnträchtiges Feld. Siehe z.B. curevac. Die haben ihre Entwicklung voll in den Sand gesetzt, Riesenverlust eingefahren. Deshalb ist eine sichere Versorgung mit Impfstoffen generell leider nicht immer gegeben, weil in anderen Pharmasparten mehr zu verdienen ist.
Ich würde nicht sagen, daß Impfen völlig ohne Risiko ist, wie vieles andere auch, das wir tun, Autofahren z.B. oder Pestizide in der Umwelt dulden. Warum aber wird z.Zt. die COVID-Impfung von manchen so dermaßen infrage gestellt ? Und wenn man nun die Impfung durchaus nicht will – dann bleibt doch nur Kontaktvermeidung, die aber m.E. auf die Dauer viel toxischer ist. Ich verstehe, wenn man bei kleineren Kindern noch zurückhaltend sein will, aber umso mehr müßten die Erwachsenen dazu bereit sein. Anscheinend hat sich noch nicht überall herumgesprochen, daß es nicht nur um den Selbstschutz geht, sondern darum, die Ausbreitung des Virus insgesamt zu bremsen. Geimpfte Erkrankte geben das Virus weniger weiter als Ungeimpfte. Studien dazu findet man in den Wochenberichten des RKI.
Leider ist die Delta-Variante eben viel infektiöser als das Ursprungsvirus, von Omikron ganz zu schweigen. Deshalb brauchen wir jetzt einen höheren Anteil Geimpfter, um die Ausbreitung zu bremsen als ursprünglich angenommen. Das ist aber nicht die Schuld der Regierung, sondern Covid macht das einfach,ohne uns zu fragen.
Manchmal höre ich jetzt auch das Argument: Es sterben doch nur die Schwachen daran. Das zu Ende gedacht – führt das nicht in eine faschistoide Richtung ?
Leider ist der Text jetzt länger geworden als beabsichtigt. Ich weiß nicht, wie er bei wem ankommt. Mir ist das Oderartig-Netzwerk von Anfang an wichtig als Chance, gemeinsam in der Region was zu gestalten, einen Beitrag zur Lebendigkeit und Vielfalt zu leisten. Zuletzt ist es ziemlich still geworden, vielleicht wegen der sich abzeichnenden Polarisierungen auch im Netzwerk ?
Was ich mir wünsche wäre mehr Bereitschaft FÜR Gestaltung, weniger DAGEGEN-Haltung. Und mehr Bereitschaft, die eigenen Grundannahmen immer mal auf den Prüfstein zu stellen. Ich persönlich empfinde immer wieder Demut angesichts der Herausforderung, mit der Vorläufigkeit meines Wissens täglich Verantwortung zu übernehmen. Und ich fühle mich im Stich gelassen mit meiner Berufsaufgabe, wenn ich erlebe, wie Menschen gegen alles sind, Impfen und Kontakteinschränkungen und meinen „Die da oben“ werden schon sehen, was sie davon haben.
Ich wünsche Euch alles Gute für diesen Winter
Almut Berg aus Lunow